Peter Iljitsch Tschaikowski
Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll
1. Allegro non troppo und molto maestoso
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Pjotr Iljitsch Tschaikowski beginnt mit einem durchdringenden Hornruf sein erstes Klavierkonzert aus dem Jahr 1875. Das Klavier unterbricht mit anmutig wogenden Klängen. In einer späteren Fassung ändert Tschaikowski diese in feste Klangblöcke.
0:53 Pizzicato
Während die Streicher sanft zupfen, galoppiert das Klavier heroisch über sie hinweg. Diese erste Melodie mit ihrem großzügigen, anschwellenden Klang ist nur ein Prolog. Später im Werk verschwindet sie ganz.
1:56 hohes, schnelles, weiches Klavier
Tschaikowski, der homosexuell war, bringt die zarte und elegante Seite seiner selbst auch in dem Klavierpart zum Ausdruck. Rasante Akzente und perlende, feinfühlige Soli wechseln sich ab.
2:31 Blockakkorde Klavier
Tschaikowski - 1875 bereits ein erfolgreicher Komponist - war unsicher. Er legte dieses Werk dem Pianisten Nikolai Rubinstein vor, der ihn so sehr beleidigte und demütigte, dass er schwor, keine einzige Note zu ändern.
3:26 Bläser
Plötzlich befinden wir uns auf einer Beerdigung. Feierliche Hörner erklingen und unterbrechen die heroische Melodie. Von weitem scheint sich das Orchester einer Beerdigung zu nähern.
4:22 Klavier schnell
Das Klavier lässt sich nicht von der ernsten Stimmung verführen. Die Melodie beginnt, unruhig vor sich hin zu stampfen. Das Orchester kann mit seinen hüpfenden Rhythmen kaum mithalten.
5:00 Flötenmelodie
Das Klavierspiel des Solisten ist wie ein wildes Pferd, losgelöst von Orchester und Dirigent. Jedes Mal brüllt sie mit einer neuen, virtuosen Laune auf. So leicht lässt das Tier sich nicht einfangen!
5:49 Pizzicato-Begleitung
Die Version des Konzerts, die wir hören, ist die zweite Fassung von 1879. Obwohl Tschaikowski sich zuerst weigerte, auch nur eine einzige Note zu ändern, überarbeitete er das Konzert zwei Mal, allerdings unter seinen Bedingungen.
6:31 Zweites Thema im Klavier
Tschaikowskis zarter Klavierpart ist der ebenso feinfühligen Klaviermusik Chopins geschuldet. Bei dieser sanften Melodie ist es fast so, als würde der Pianist wehmütig ein- und ausatmen.
7:27 Klavier-Arpeggien
Fließende Klänge wie diese sind als „Arpeggien“ bekannt, kurz gesagt: Sie spielen wie ein Harfenspieler. Komponist:innen verwenden sie oft, um ihren Melodien mehr Fülle zu verleihen und sie zu umhüllen.
8:22 Orchester weg
In klassischen Klavierkonzerten gibt es oft einen Dialog zwischen Klavier und Orchester. In diesem Fall ist das Rendezvous alles andere als friedlich. Das Orchester ist wie ein erstickendes Gegenspieler, dem der Pianist entkommen will.
9:19 Klavier und Flöte
Um Gerüchte über seine Homosexualität zu zerstreuen, heiratete Tschaikowski einige Jahre nach diesem Werk Antonina Miljukowa. Obwohl sie bis zu seinem Tod verheiratet blieben, waren sie nur sechs Wochen lang zusammen.
10:30 Paukenschlag
Von der seufzenden, zarten Melodie ist nun nichts mehr übrig. Nervös treibt das Orchester mit einer Parodie auf die Klaviermelodie vorwärts. Das Orchester und das Klavier finden einfach nicht zueinander.
11:21 Klaviersolo leise
Das Klavier versinkt in einem Tagtraum. Verwirrt scheint sich jedes Fragment der Melodie weiter von seinem Ursprung zu entfernen. Spätere Komponisten wie Skrjabin haben diesen verträumten Stil noch vertieft.
12:18 Streicher
Nun ist das Klavier an der Reihe, die Geigen zu parodieren. Während sie versuchen sanft anzuschwellen, stürmt das Klavier über sie hinweg, als wolle es seine Macht beweisen.
13:03 Klavier hoch
Nachdem dieses Werk von seinen Lehrern abgelehnt worden war, gab Tschaikowski es dem Pianisten Hans von Bülow für seine Tournee durch die Vereinigten Staaten. Beim Publikum war es ein großer Erfolg, die Kritiker reagierten jedoch kühl.
13:50 Pizzicato-Begleitung
Zwischen Klavier und Orchester entsteht eine stillschweigende Übereinkunft, wer begleitet und wer für eine Weile die Führung übernehmen darf. Nachdem sie sich längst gegenseitig übertönt haben und ein Zusammenspiel unmöglich erscheint, schimmert Hoffnung auf.
14:39 Geigen und Flötenmelodie
Tschaikowski ist berühmt für seine Melodien, was wir auch in diesem Werk hören. Noch heute können viele zu seiner Ballettmusik für „Der Nussknacker“, „Schwanensee“ und „Dornröschen“ mitpfeifen.
15:20 Klavier- und Geigenmelodie
Wenn es einen Konflikt gab, so ist er jetzt gelöst. Die fließenden Klavierklänge verleihen dem Orchester Tiefe, während es zeitgleich die melodische Oberhand hat.
16:23 Klaviersolo
Jetzt klingt alles so harmonisch zwischen Klavier und Orchester, dass das Orchester auch dem Solisten einen Moment gönnt. Auch dieser freut sich über das Zusammenspiel und wagt es, in diesem Solo für eine Weile eine Traumwelt zu erschaffen.
17:08 Klavier-Trillerfigur
Auch wenn Tschaikowski kein fantastischer Pianist war, so war er doch von solchen umgeben. Sowohl beispielsweise sein Lehrer Anton Rubinstein als auch Antons Bruder Nikolai (der dieses Werk verspottete) waren Konzertpianisten.
18:02 Melodie der linken Hand
Inzwischen hat der Solist seinen Schwung des Anfangs zurückgewonnen. Wo sein wütendes Fieber zunächst einen Wettbewerb mit dem Orchester darstellte, entpuppt es sich hier als ein Plädoyer für ein Wiedersehen.
19:13 schnelle Läufe
Das Klavier scheint dem Orchester schnell und auffällig zuzuzwinkern. Dann fügt es sich ruhig mit plätschernden Noten ein, die der Oboe als Begleitung dienen.
20:21 Tutti mit Pauken
So heroisch dieser Satz auch begann, Solist und Orchester haben nun erkannt, dass Heldentum kein Wettbewerb ist. Sie unterbrechen sich nicht mehr, sondern helfen sich gegenseitig auf dem Weg zu einem glorreichen Schluss.
2. Andantino semplice
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Vom Showdown des ersten Satzes ist nichts mehr übrig. Sanft zupfende Streicher begleiten eine beschwingte Flöte. Tschaikowski zeigt sich von seiner wohlwollenden Seite: Die Melodie klingt wie ein Wiegenlied.
0:40 Klavier
Das virtuose Feuerwerk, das der Pianist im ersten Satz zu zeigen hatte, schmilzt hier in der Sonne dahin. In der Interpretation dieser einfachen Solomelodie sind die Emotionen essenzieller als die angewendete Technik.
1:20 Oboen-Melodie
Tschaikowski lässt hier die Oboen und Klarinetten - und dann das Klavier - ähnlich einem ukrainischen Dudelsack, einer Volynka, erklingen. Wie bei einem Dudelsack hören wir nasale Fagotte als „Bordun“ (anhaltender Ton).
2:16 Cello-Melodie
Tschaikowskis „zu westlicher“ Stil wurde von russischen Kollegen geschmäht. Auch war der Komponist nicht rein russischer Abstammung: Seine Mutter stammte aus Frankreich, sein Vater war ukrainischer Abstammung.
3:18 Klavier schnell
Was plötzlich wie ein Wanderlicht in einem Sumpf erscheint, ist in Wirklichkeit ein französisches Kabarettlied. Wir hören die Liedmelodie in den Streichern: „Du musst Spaß haben, tanzen und lachen!“
4:13 Klavier weg
Das Klavier erweist sich erneut als launischer „Angeber“. Seine schnellen Läufe fordern das Orchester heraus, das ohnehin nicht mit ihm mithalten kann. Es geht hier nicht um einen ernsthaften Wettbewerb, sondern um ein ausgelassenes Fangspiel.
5:04 Klaviertriller
Tschaikowski weist die Musiker:innen an, diesen Satz „semplice“ (einfach) zu spielen. Die Melodie braucht keine Ausschmückung, sie soll einfach nachgesummt oder nachgepfiffen werden können.
6:01 Klavier weg
Trotz der Lebendigkeit in der Mitte scheint das Wiegenlied zu funktionieren - nicht zuletzt mit dem Klavier selbst. Mit wogenden, ruhigen Klängen stricken Solist und Orchester ein Ende für den zweiten Satz.
3. Allegro con fuoco
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Die Melodie, die wir hier hören, ist ein ukrainisches Volkslied: „Ivanka, komm heraus zum Singen, wenn der Frühling beginnt“. Rhythmisch gibt es Ähnlichkeiten mit dem polnischen Volkstanz, der Mazurka.
0:45 Tutti ohne Klavier
Das Orchester stampft einen steinharten Volkstanz, begleitet von knallenden Pauken. Ist - nach der Ruhe des Mittelsatzes - die Rivalität zwischen dem anmutigen Klavier und der ungezügelten Energie des Orchesters wieder da?
1:24 Klavier-Arpeggien
Obwohl Tschaikowski sich selbst als „durch und durch russischen“ Komponisten bezeichnete, verrät ein Großteil seiner Musik ukrainische Einflüsse. Er hielt sich oft in der Ukraine auf und ließ sich von der dortigen Volksmusik inspirieren.
2:09 weiche Geigen
Die Geigen scheinen nun zu begreifen, was das Klavier im ersten Satz vorhatte. Während das Orchester dem Rhythmus im ersten Satz kaum folgen konnte, übernehmen die Geigen nun die Führung bei der Wiederholung.
3:02 Klaviersolo
Wenn Tschaikowskis Musik eines nicht ist, dann ist es „volkstümlich“. Er stammte aus einem wohlhabenden, weltoffenen Umfeld. Folglich tendiert seine Musik immer mehr zu Delikatesse und Sentiment.
3:50 Anfangsthema
Tschaikowski dachte, dass der Pianist Nikolai Rubinstein dieses Werk für „unspielbar“ hielt. Nach anfänglichen Vorbehalten spielte Rubinstein es allerdings brillant.
4:54 Orchester weg
Russland betrachtet Tschaikowski und dessen Musik als nationales Symbol und verwendete dieses Werk nach dem Ausschluss von den Olympischen Spielen als „neutrale“ Hymne. Und doch ist es voller internationaler Einflüsse: Ukrainisch, Französisch und Deutsch.
5:56 Orchester zurück
Die Bitterkeit zwischen Klavier und Orchester ist völlig verschwunden. Die Geschicklichkeit des Solisten und Kraft sowie Klangfülle des Orchesters ergänzen sich nur noch gegenseitig.
6:30 schnelles Tempo
An Feuerwerken mangelt es Tschaikowski selten, so auch hier. Klavier und Orchester steigern sich gemeinsam zu einem triumphalen, freudigen Höhepunkt, der Tschaikowskis erstem Klavierkonzert einen würdigen Abschluss verleiht.
Übersetzung: Joschua Lettermann